Wesentliche Bestandteile der 11. GWB-Novelle
1. Kartellrechtsverstoßunabhängige Marktregulierung
1.1 Einführung. Durch die 11. GWB-Novelle erhält das BKartA die Befugnis, Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen zu ergreifen – auch unterhalb der Schwelle kartellrechtswidriger Verhaltensweisen. Grundlage für ein regulierendes Eingreifen ist die Durchführung einer Sektoruntersuchung, ein bekanntes Instrument zur Identifizierung etwaiger Wettbewerbsprobleme. Die Einleitung einer solchen Untersuchung ist nunmehr bereits zulässig, wenn „Umstände vermuten lassen“, dass der Wettbewerb eingeschränkt oder verfälscht ist (§ 32e Abs. 1 GWB). Anders als bislang, wo sich Sektoruntersuchungen teilweise über mehrere Jahre erstreckt haben, hat das BKartA Sektoruntersuchungen künftig innerhalb von 18 Monaten abzuschließen (§ 32e Abs. 3 GWB).
1.2 Voraussetzungen. Eine kartellrechtsverstoßunabhängige Regulierung eines Marktes setzt voraus, dass das BKartA auf der Grundlage der Ergebnisse der Sektoruntersuchung durch Verfügung feststellt, dass „eine erhebliche und fortwährende Störung des Wettbewerbs auf mindestens einem mindestens bundesweiten Markt, mehreren einzelnen Märkten oder marktübergreifend“ vorliegt (§ 32f Abs. 3 S. 1 GWB). Dies ist insbesondere der Fall, wenn (i) unilaterale Angebots- oder Nachfragemacht besteht, (ii) Marktzutritts oder -austrittsbeschränkungen bestehen, Kapazitäten von Unternehmen oder Wechselmöglichkeiten für Kunden beschränkt werden, (iii) gleichförmiges oder koordiniertes Verhalten vorliegt oder (iv) Einsatzfaktoren oder Kunden durch vertikale Beziehungen abgeschottet werden (§ 32f Abs. 5 S. 1 GWB). Eine fortwährende Störung des Wettbewerbs liegt vor, wenn sie über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren dauerhaft vorgelegen hat oder zumindest wiederholt aufgetreten ist und zum Zeitpunkt der Verfügung keine Anhaltspunkte bestehen, dass die Störung innerhalb von zwei Jahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit entfallen wird (§ 32 Abs. 5 S. 3 GWB). Will das BKartA kartellrechtsverstoßunabhängig regulierend in einen Markt eingreifen, muss es ferner begründen, warum die etablierten Eingriffsbefugnisse (insbesondere zur Kartell- und Missbrauchsverfolgung) nicht ausreichen, um die Störung des Wettbewerbs wirksam und dauerhaft zu beseitigen. Die auf den letzten Metern im Gesetzgebungsverfahren ergänzte Formulierung der wirksamen und dauerhaften Beseitigung soll den subsidiären Charakter der neuen Maßnahmen verdeutlichen.
1.3 Abhilfemaßnahmen. Liegen die vorgenannten Voraussetzungen vor, hat das BKartA die Möglichkeit, unterschiedliche Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art zu treffen (§ 32f Abs. 3 S. 6 GWB). Hierzu gehören nach § 32f Abs. 3 S. 7 Nr. 1-6 GWB insbesondere:
- die Gewährung des Zugangs zu Daten, Schnittstellen, Netzen oder sonstigen Einrichtungen;
- Vorgaben zu Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen auf den untersuchten Märkten und auf verschiedenen Marktstufen;
- die Verpflichtung zur Etablierung transparenter, diskriminierungsfreier und offener Normen und Standards durch Unternehmen;
- Vorgaben zu bestimmten Vertragsformen oder Vertragsgestaltungen einschließlich vertraglicher Regelungen zur Informationsoffenlegung;
- das Verbot der einseitigen Offenlegung von Informationen, die ein Parallelverhalten von Unternehmen begünstigen; und
- die organisatorische Trennung von Unternehmens- oder Geschäftsbereichen.
Nur wenn diese Maßnahmen nicht möglich sind, nicht von gleicher Wirksamkeit oder im Vergleich zu weitergehenden Abhilfemaßnahmen mit einer größeren Belastung für das Unternehmen verbunden wären, kann das BKartA – als sog. ultima ratio – marktbeherrschende Unternehmen sowie Unternehmen mit einer überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb nach § 19a Abs. 1 GWB durch Anordnung dazu verpflichten, Unternehmensanteile oder Vermögen zu veräußern, wenn zu erwarten ist, dass eine solche Maßnahme die erhebliche und fortwährende Störung des Wettbewerbs zumindest erheblich verringert (§ 32f Abs. 4 GWB). Überdies müssen weitere Verfahrensvoraussetzungen vorliegen: Insbesondere muss die Monopolkommission und die nach § 48 Abs. 1 GWB zuständige oberste Landesbehörden, in deren Gebiet das zu entflechtende Unternehmen seinen Sitz hat, angehört werden. Außerdem müssen Vorgaben zur Erzielung des Verkaufserlöses und dessen Wertermittlung sowie hinsichtlich eines Bestandsschutzes für Vermögensanteile beachtet werden, deren Erwerb in den letzten 10 Jahren durch das BKartA freigegeben wurde. Rechtsbehelfe gegen Verfügungen gem. § 32 Abs. 2a Satz 1, § 32f Abs. 3 S. 6, Abs. 4 GWB haben gem. § 61 Abs. 1 GWB aufschiebende Wirkung.
1.4 Anmeldepflicht. Ergänzend oder alternativ zu den Abhilfemaßnahmen kann das BKartA Unternehmen gem. § 32f Abs. 2 GWB dazu verpflichten, in einem Zeitraum von drei Jahren, der drei Mal um weitere drei Jahre verlängert werden kann, alle Zusammenschlüsse zur Fusionskontrolle beim BKartA anzumelden, wenn der Erwerber EUR 50 Millionen und das zu erwerbende Unternehmen EUR 1 Million Umsatz im letzten abgeschlossenen Geschäftsjahr in Deutschland erzielt haben. Voraussetzung für die Aussprache einer solchen Verpflichtung sind objektiv nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür, dass durch künftige Zusammenschlüsse der wirksame Wettbewerb in Deutschland in einem oder mehreren in der Sektoruntersuchung untersuchten Wirtschaftszweige erheblich behindert werden könnte. Hierin liegt eine deutliche Ausweitung der Anmeldepflichten für die betroffenen Unternehmen und eine weitere Möglichkeit des Bundeskartellamts, ausgewählte Märkte noch näher zu beobachten.
1.5 Zusammenfassung. Das BKartA erhält durch die 11. GWB-Novelle weitreichende ergänzende Eingriffsbefugnisse. In der Europäischen Union ist das BKartA neben der griechischen Kartellbehörde (HCC) eine der ersten Kartellbehörden, die derart weitreichende Befugnisse erhält.4 Unternehmen, die in einem Sektor tätig sind, der Ziel einer Sektoruntersuchung durch das BKartA wird, müssen sich daher ggf. auf umfangreiche Untersuchungen und weitreichende Maßnahmen des BKartA einstellen, im schlimmsten Fall bis hin zu Entflechtungen. Abzuwarten bleibt, in welchen Sektoren das BKartA seine neuen Befugnisse erstmals nutzen wird. Aufgrund der Schwerpunktsetzung des BKartA in den letzten Jahren, die einen Fokus auf Digital- und Energiemärkte erkennen lässt, könnte es sich hier um natürliche erste Kandidaten handeln.
2. Erleichterte Vorteilsabschöpfung
2.1 Einführung. Durch die 11. GWB-Novelle wird die Abschöpfung von Vorteilen („Übergewinnen“), welche Unternehmen durch die Missachtung des Kartellrechts erzielen, vereinfacht und effektiver ausgestaltet. Der bereits bestehende Anwendungsrahmen des § 34 GWB wird durch die Schaffung einer gesetzlichen Vermutung, welche die Nachweisanforderungen für den konkret erlangten Vorteil absenkt, neu geordnet und ergänzt.
2.2 Voraussetzung und Vermutungsregel. Eine Vorteilsabschöpfung kann durch das BKartA angeordnet werden, wenn ein Kartellrechtsverstoß durch das jeweilige Unternehmen vorliegt und dieser durch das BKartA festgestellt wurde. Der Abschöpfungszeitraum liegt auch künftig bei maximal fünf Jahren. Durch die neu hinzukommende gesetzliche Vermutung wird jedoch unterstellt – und hierin liegt die eigentliche Neuerung, dass ein Unternehmen durch einen nachgewiesenen Kartellrechtsverstoß einen Übergewinn in Höhe von 1% seiner Inlandsumsätze mit dem tatbefangenen Produkt erzielt hat (§ 34 Abs. 4 GWB). Die Schätzung der Vorteilshöhe erfolgt dabei gemäß § 287 der Zivilprozessordnung, wobei eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt. Eine Deckelung möglicher Abschöpfungen ist wie bei der Verhängung eines Bußgeldes wegen eines Kartellverstoßes bei zehn Prozent des Vorjahresgesamtumsatzes vorgesehen.
2.3 De facto – Unwiderlegbarkeit der Vermutung. Von besonderer Bedeutung ist die de facto Unwiderlegbarkeit der Vermutungsregel. Gemäß § 34 Abs. 4 GWB ist es faktisch nicht möglich vorzutragen, dass kein oder nur ein geringer finanzieller Vorteil erzielt wurde. Erforderlich für eine Widerlegung wäre der Nachweis, dass weder die am Verstoß unmittelbar beteiligte juristische Person oder Personenvereinigung noch das Unternehmen im Abschöpfungszeitraum einen Gewinn in entsprechender Höhe erzielt hat. Bei der Ermittlung des Gewinns des Unternehmens ist der weltweite Gewinn aller natürlichen und juristischen Personen sowie Personenvereinigungen zugrunde zu legen, die als wirtschaftliche Einheit operieren. Da der weltweite Konzerngewinn bei diversifizierten und/oder internationalen Unternehmen regelmäßig bei mindestens 1% der Umsätze liegen wird, die im Inland mit den Produkten oder Dienstleistungen, die mit der Zuwiderhandlung in Zusammenhang stehen, erzielt werden, dürfte jedem Kartellrechtsverstoß ein (abzuschöpfender) Gewinn in vorbenannter Höhe immanent sein, und dies über einen Zeitraum bis zu fünf Jahren. Die Vermutung soll lediglich dann nicht gelten, wenn die Erlangung eines Vorteils aufgrund der besonderen Natur des Verstoßes ausgeschlossen ist. Es darf bezweifelt werden, dass ein solcher Nachweis regelmäßig gelingt.
2.4 Zusammenfassung. In der Theorie erhält das BKartA mit der Erleichterung der Vorteilsabschöpfung neben der Ermächtigung zur kartellrechtsverstoßunabhängigen Marktregulierung ein weiteres scharfes Schwert. In der Praxis bleibt die Relevanz der Neureglung zur Vorteilsabschöpfung allerdings abzuwarten, insbesondere vor dem Hintergrund deren Subsidiarität gegenüber kartellrechtlichem Schadensersatz. Auch steht die Frage im Raum, wie sich die pauschale 1%-Vermutung mit der jedenfalls bislang eher ablehnenden Haltung des BGH gegenüber einer gesetzlichen Pauschalisierung von Schadensersatzansprüchen verträgt. Jedenfalls dürfte die Einführung der Vermutungsregel dem BKartA ein gewisses Drohpotential an die Hand geben, künftig vom Instrument der Vorteilsabschöpfung häufiger Gebrauch zu machen.
3. Unterstützung bei Durchsetzung des DMA
3.1 Einleitung. Neben den vorgenannten Änderungen erhält das BKartA die Möglichkeit, die Kommission bei der Durchsetzung des DMA zu unterstützen. Der DMA ergänzt das Wettbewerbsrecht, verdrängt es aber nicht, Art. 1 Abs. 6 DMA. Er enthält einen Verhaltenskodex für große Digitalunternehmen, die von der Kommission als sog. Gatekeeper designiert werden5 und soll die Fairness und Wettbewerbsfähigkeit des digitalen Marktes gewährleisten.
3.2 Abgrenzung. Mitgliedstaatliche Kartellbehörden haben lediglich begrenzte Ermittlungsbefugnisse, um die Durchsetzung des DMA zu unterstützen. Die Durchsetzungsbefugnis für den DMA selbst liegt bei der Kommission. Diese ist sole enforcer. Mit der Änderung von § 32g GWB wird dem BKartA die Kompetenz verliehen, die Kommission bei der Durchsetzung der im DMA normierten Verhaltenspflichten zu unterstützen. So kann das BKartA die mögliche Nichteinhaltung der Artikel 5, 6 und 7 DMA untersuchen, alle für die Untersuchung erforderlichen Ermittlungen durchführen und der Kommission Bericht über Ergebnisse erstatten.
3.3 Verhältnis DMA zu § 19a GWB. Der bereits im Jahr 2021 durch die 10. GWB-Novelle eingeführte § 19a GWB, der eine ähnliche Zielrichtung wie der DMA verfolgt, jedoch maßgebliche Unterschiede aufweist (insbesondere weiterer Adressatenkreis, Verhaltenspflichten als Regelbeispiele ausformuliert, nicht als abschließender Katalog) wird durch den DMA nicht verdrängt. Europarechtlich wird der vorrangige DMA nach Auffassung des BKartA komplementär durch § 19a GWB ergänzt. Die konkrete Auslegung beider Regelwerke und die Ausgestaltung ihrer Koexistenz dürfte allerdings absehbar die Gerichte beschäftigen.6
3.4 Private Enforcement. Die 11. GWB-Novelle vereinfacht das Private Enforcement des DMA in Deutschland. Bemerkenswert ist die weitgehende Gleichstellung zum Kartellschadensersatzrecht, insbesondere die Übertragung des Konzepts der Bindungswirkung von Entscheidungen der Kommission und Europäischer Gerichte in Schadensersatzverfahren wegen Verstößen gegen Verhaltenspflichten im DMA, § 32 b) GWB.7
3.5 Zusammenfassung. Die 11. GWB-Novelle ermöglicht dem BKartA eine aktive Rolle bei der Durchsetzung des DMA als Hilfestellung für die Kommission.8 Es kann davon ausgegangen werden, dass das BKartA diese Rolle aktiv und selbstbewusst annehmen wird, da die Rechtsdurchsetzung in der Digitalökonomie einer der Schwerpunkte der behördlichen Arbeit des BKartA darstellt. Von praktischer größerer Relevanz dürfte die Schaffung einer Rechtsgrundlage für die privatrechtliche Durchsetzung von Verhaltenspflichten aus dem DMA sein.
Ausblick
Der Regierungsentwurf der 11. GWB-Novelle wurde von verschiedenen Seiten gleichermaßen gelobt und kritisiert.
Befürworter der Novelle sehen im normativ formulierten § 32f GWB die lang ersehnte Möglichkeit, in gestörten Marktsegmenten mit ordnender Hand einzugreifen.
Kritisiert wird insbesondere, dass das BKartA mit dem neuen § 32f GWB die Möglichkeit erhält, rechtstreue Unternehmen in Ihrer Betätigungsfreiheit einzuschränken. Bedenkt man, dass das BKartA mit dem deutschen Fusionskontrollrecht, das Unternehmen bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen zur Anmeldung von Transaktionen verpflichtet (anders als dies z.B. in Großbritannien der Fall ist), bereits weitreichende und effektive Möglichkeiten besitzt, Märkte vor einem „Umkippen“ zu bewahren, stellt sich die Frage, ob diese weitergehenden Befugnisse wirklich angemessen und erforderlich sind. Es dürfte nicht gewagt sein zu prognostizieren, dass diese und andere Fragen zur 11. GWB-Novelle der gerichtlichen Klärung zugeführt werden.
In der Praxis bleibt abzuwarten, wann, gegen wen und in welchem Umfang das BKartA von seinen neuen Möglichkeiten Gebrauch machen wird. Das BKartA hat in den vergangenen Monaten stets betont, insbesondere mit dem Instrument eines verstoßunabhängigen Markteingriffs verantwortungsvoll umzugehen. Unternehmen werden dies mit Spannung beobachten.
In dieser Legislaturperiode ist zudem noch mit der 12. GWB-Novelle zu rechnen, deren Fokus laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) auf den Themen Nachhaltigkeit bei Kooperationen und Verbraucherschutz liegen soll.9
Wir danken unseren Trainees Alexandra Komorek und Leonard John für die wertvolle Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrages.