Ausgangslage
Standardessenzielle Patente (SEPs) sind Patente, deren Nutzung erforderlich ist, um standardisierte Technologien anzubieten. Am bekanntesten sind die Telekommunikationsstandards wie UMTS, LTE, 5G und 6G, wobei mit jeder neuen Generation die Anzahl der essenziellen Patente, aber auch der Patentinhaber und Anwender exponentiell in die Höhe schießt. Andere wichtige patentgeschützte Standards für das Internet der Dinge sind z.B. Bluetooth, RFID, Wi-Fi oder HEVC.
Aufg rund der digitalen Transformation sind große Teile der Industrie und des Dienstleistungssektors von SEPs betroffen. Die Europäische Kommission schätzte im April 2023, dass es weltweit 75.000 SEPs von 260 verschiedenen Inhabern gibt, die von 3.800 in der EU aktiven Firmen genutzt werden. Zwischen den Inhabern und den Anwendern gilt es, einen Ausgleich zu schaffen. Der rasante technische Fortschritt in den standardisierten Technologien beruht auf enormem Forschungsaufwand, der durch Verpflichtungen der Innovatoren im Standardisierungsprozess, die SEPs zu Bedingungen, die „fair, reasonable and non-discriminatory“ (FRAND) sind, zu produzieren
Innovative Unternehmen haben einen großen finanziellen Anreiz, ihre patentierten Technologien in den Standard einfließen zu lassen. Nicht selten werden zu viele Patente als standardessenziell deklariert, was von den Standardisierungsgremien nicht überprüft wird. Oft stellt sich auch die Frage, ob die Patente überhaupt hätten erteilt werden dürfen. Das sind die üblichen Themen, wenn zwischen Inhabern und Anwendern über die Höhe der FRAND-Vergütung gestritten wird. Die Inhaber haben durch die SEPs allerdings regelmäßig eine marktbeherrschende Stellung inne, die sie bei ihrer Durchsetzung zu beachten haben, damit sie nicht dem kartellrechtlichen Vorwurf des Missbrauchs ausgesetzt werden. Anwender wissen im Hinblick auf die unzähligen Inhaber oft gar nicht, wen sie um eine Lizenz bitten sollen, oder müssen befürchten, dass die Summe der notwendigen Lizenzen den Vertrieb der betroffenen Produkte unwirtschaftlich gestaltet.
Die medienwirksamen Patentverletzungsverfahren zu Smartphones und Connected Cars sind nur die Spitze einer großen Zahl an Rechtsstreitigkeiten, die die EU-Kommission in Zukunft vermindern möchte.
Finaler Entwurf der SEP-VO
Am 27. April 2023 hat die Kommission daher einen finalen Entwurf einer neuen SEP-Verordnung (COM(2023) 232 final) mit u.a. folgenden Maßnahmen vorgelegt:
1. Register von SEPs und elektronische Datenbank
Zur Erhöhung der Transparenz wird bei einem neu zu installierenden Kompetenzzentrum, das bei dem EUIPO in Alicante angesiedelt sein soll, ein öffentliches elektronisches Register geführt, in dem u.a. Informationen zu den relevanten Standards, der SEPs (Nummern, Länder), des Inhabers und des EU-Vertreters, die technische Spezifikation des Standards und bekannte Lizenzierungsbedingungen aufgeführt sind. Weitere nützliche Informationen zur Bestimmung der Standardessenzialität sowie der Bestimmung von FRAND-Bedingungen werden in Datenbanken gesammelt. Die Eintragung der SEPs in das Register soll Voraussetzung für die Durchsetzung der Patente in Europa sein.
2. Gesamtlizenzgebühr
Mindestens zwei oder mehr Inhaber von SEPs können dem Kompetenzzentrum gemeinsam die Gesamtlizenzgebühr für die SEPs, die einen Standard abdecken, mitteilen. Die Gesamtlizenzgebühr kann später geändert werden. Die wichtigsten Informationen zur Gesamtlizenzgebühr werden in der Datenbank des Kompetenzzentrums eingetragen, genauso wie Änderungen, einschließlich der Gründe dafür. Der Vorgang der gemeinsamen Einreichung einer Gesamtlizenzgebühr kann auf Antrag von Inhabern von SEPs, die mindestens 20 % aller SEPs eines Standards repräsentieren, durch einen vom Kompetenzzentrum gestellten Schlichter erleichtert werden. SEP-Inhaber oder Anwender können beim Kompetenzzentrum auch die Erstellung eines Sachverständigengutachtens über die Höhe einer globalen Gesamtlizenzgebühr verlangen. Dafür ist ein Verfahren vorgesehen, an dem sich sowohl Inhaber als auch Anwender beteiligen können. Das Ergebnis ist allerdings nicht bindend.
3. Essenzialitätsprüfung von SEPs
Das Kompetenzzentrum prüft stichprobenartig, ob deklarierte SEPs tatsächlich für die Nutzung des Standards, für den sie registriert wurden, notwendig sind. Auch jeder SEP-Inhaber oder Anwender kann jährlich bis zu hundert eingetragene SEPs überprüfen lassen. Beteiligte – das sind neben den SEP-Inhabern und Anwender auch deren Vertreter oder Vereinigungen, die die Interessen von SEP-Inhabern und Anwendern vertreten – können Stellungnahmen abgeben. Hat der Gutachter Zweifel an der Standardessenzialität eines Patents, kann der Inhaber eine erneute Prüfung durch einen zweiten Gutachter verlangen. Eine Berufung ist nicht vorgesehen.
Pro Patentfamilie wird dabei maximal ein Patent überprüft. Das Ergebnis, das für die gesamte Patentfamilie gilt, wird als begründetes Gutachten in die Datenbank aufgenommen. Es wird zudem im Register der prozentuale Anteil der stichprobenartig geprüften SEP pro SEP-Inhaber und pro spezifischem eingetragenen Standard, die die Essenzialitätsprüfung erfolgreich bestanden haben, vermerkt. Das lässt Rückschlüsse auf die Qualität des SEP-Portfolios einzelner SEP-Inhaber zu. Während das Ergebnis der Überprüfungen nicht bindend ist, wird erwartet, dass dem Gutachten in Verhandlungen oder Konflikten gegenüber Beteiligten, Patentpools, Behörden, Gerichten oder Schiedsgerichten als sachverständige Einschätzung ein gewisses Gewicht zukommt.
4. FRAND Bestimmung
Das Kernstück der geplanten SEP-Verordnung soll die Bestimmung von FRAND-Bedingungen sein, die verpflichtend SEP-Verletzungsklagen durch den Inhaber oder gerichtlichen Festsetzungen von FRAND-Bedingungen auf Antrag von Anwendern in Mitgliedstaaten vorgeschaltet sein soll. Innerhalb einer Verfahrensdauer von maximal 9 Monaten sollen die Parteien ggfs. mit Hilfe eines vom Kompetenzzentrum gestellten Schlichters die Bestimmung von FRAND erreichen. Endet das FRAND-Bestimmungsverfahren ohne verbindliche Einigung der Parteien, verfasst der Schlichter einen Bericht mit dem Namen der Parteien, einer vertraulichen Bewertung der FRAND-Bestimmung, einer vertraulichen Zusammenfassung der wichtigsten strittigen Punkte sowie einer nicht vertraulichen Methodik und die Bewertung der Bestimmung der FRAND-Bedingungen durch den Schlichter. Der vertrauliche Bericht ist nur für die Parteien und das Kompetenzzentrum zugänglich, während der nicht vertrauliche Bericht in der Datenbank veröffentlicht wird. Jede an der FRAND-Bestimmung beteiligte Partei kann den Bericht ungeachtet verfahrensrechtlicher Hindernisse in jedem Verfahren vor einem zuständigen Gericht eines Mitgliedstaats gegen die andere an der FRAND-Bestimmung beteiligte Partei einreichen. Dies schafft bei den Parteien Druck, sich konstruktiv um eine Einigung zu bemühen, da es in nachfolgenden SEP-Gerichtsverfahren bei dem üblichen Kartellrechtseinwand gerade auch um dieses Bemühen der Parteien geht.
Die Bedeutung der Regeln zur FRAND-Bestimmung wird allerdings dadurch geschwächt, dass der Entwurf bei Einleitung eines parallelen Verfahrens vor einem Gericht oder Behörde eines Drittlandes (z.B. England, USA oder China) über ein Patent, das im Wesentlichen dieselben Ansprüche aufweist, wie das SEP, vorsieht, dass das FRAND-Bestimmungsverfahren auf Antrag einer Partei beendet wird. Der Antragsgegner einer FRAND-Bestimmung könnte somit effektiv durch eine Klage in einem Drittland das Verfahren torpedieren.
5. KMUs
Der Kommission sind die Belange von kleinsten, kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) von Bedeutung. Für sie gibt es reduzierte Gebühren für die Leistungen des Kompetenzzentrums, kostenlose Beratung sowie eine Ermutigung der SEP-Inhaber, für KMUs bzw. für niedrigere Volumen günstigere Konditionen anzubieten. Ob Letzteres helfen wird, bleibt abzuwarten.
Kritik
Die Kritik an dem neuen Regelwerk ist vielfältig und zum Teil heftig. Es wird bereits in Frage gestellt, ob es überhaupt einer solchen regulatorischen Initiative bedurfte. Zwar ziehen einzelne gerichtliche SEP-Verfahren weltweit viel Aufmerksamkeit auf sich, was aber die Tatsache verschleiert, dass im Verhältnis zu der immensen Anzahl an SEPs und Anwender vergleichsweise wenig gestritten wird. Die Parteien legen FRAND-Lizenzen zahlreich außergerichtlich fest. Die Bildung von Patentpools sowie Lizenzierungsprogramme großer SEP-Inhaber erleichtern den Vorgang.
Auf die unterschiedliche Rechtsprechung zur Auslegung von Patentansprüchen in den verschiedenen Mitgliedstasten geht der Entwurf nicht ein. Welche davon ist bei der Essenzialitätsprüfung anzuwenden? Und wie geht man mit der Tatsache um, dass sich die SEPs in gerichtlichen Verfahren rein statistisch zu einem hohen Prozentsatz als (teilweise) nicht rechtsbeständig erweisen? Eine Prüfung der Standardessenzialität ohne Berücksichtigung des Rechtsbestands der Patente erscheint nicht zielführend. Genauso wenig die Reduzierung der Prüfung auf nur ein Mitglied einer Patentfamilie, wo doch die einzelnen Familienmitglieder höchst unterschiedliche Ansprüche aufweisen können.
Zu Recht wird auch kritisiert, dass die FRAND-Bestimmung beim Kompetenzzentrum zwar zwingend vor dem Einreichen von Patentverletzungsverfahren durch den SEP-Inhaber oder vor gerichtlichen FRAND-Bestimmungen beantragt durch den Anwender durchgeführt werden muss, jedoch nicht in den umgekehrten Fällen, d.h. vor einer negativen Feststellungsklage auf Nichtverletzung durch den Anwender oder der gerichtlichen Bestimmung von FRAND auf Antrag des SEP-Inhabers. Das ist unausgewogen. Darf der SEP-Inhaber nicht – wie üblich – mit einer positiven Verletzungsklage auf die negative Feststellungsklage auf Nichtverletzung reagieren?
Die größten Bedenken bestehen hinsichtlich der Ressourcen an Fachleuten, die beim EUIPO, das bisher nur für Marken und Designs zuständig war, aufgebaut werden müssten. Bedenkt man, mit welchem Aufwand um die Standardessenzialität einzelner Patente oder um einzelne FRAND-Festlegungen gerungen wird, was bei den Summen, die auf dem Spiel stehen, nicht verwundert, ist es kaum zu glauben, dass das Kompetenzzentrum in der Lage sein wird, einen substantiellen Anteil an SEPs stichprobenartig auf Essenzialität zu untersuchen, geschweige denn die potentiell hundert Anfragen pro Jahr und pro SEP-Inhaber oder Anwender abzuarbeiten. Anders als bei zweiseitigen Gerichtsverfahren können unzählige Beteiligte Stellungnahmen abgeben. Nicht weniger aufwändig werden die FRAND-Festlegungen. In entsprechenden nationalen Gerichtsverfahren werden oft von beiden Seiten zahlreiche und umfangreiche Gutachten und Dokumente vorgelegt, die die Gerichte jahrelang beschäftigen. Das Kompetenzzentrum wird daher keine andere Wahl haben, als ihre Aufgaben höchst oberflächlich wahrzunehmen oder es wird sich sofort ein Stau bilden, der das enge Fristenregime in der Verordnung, z.B. die neun Monate für die FRAND-Bestimmung, sprengen wird.
Der zu erwartende Flaschenhals des FRAND-Bestimmungsverfahrens könnte viele SEP-Inhaber abschrecken, sodass die Gerichte in der EU (vor allem in Deutschland oder das neue europäische Einheitspatentgericht) ihre Bedeutung bei FRAND-Verfahren verlieren könnten. Es war bestimmt nicht die Motivation hinter dem Entwurf, dass Europa in Zukunft bei der Bestimmung globaler FRAND-Bedingungen außen vor bleiben wird.
Ausblick
Der Entwurf befindet sich derzeit in der ersten Lesung beim Europäischen Parlament. Auf Grund der teilweise berechtigten Kritik an dem Entwurf und nicht ausgeräumten Unklarheiten, wird zu beobachten sein, ob es im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch Änderungen geben wird oder ob sogar das ganze Vorhaben scheitern wird.