Erstmals veröffentlicht in Legal Tribune Online am 09. März 2023 und mit freundlicher Genehmigung wiedergegeben.
Amazon darf in einem Logistikzentrum die Arbeitsgeschwindigkeit der Mitarbeiter fortlaufend überwachen. Ingemar Kartheuser und *Elias Pabst zur Bedeutung der Entscheidung des VG Hannover und deren Auswirkungen.
Die niedersächsische Datenschutzbehörde hatte dem Versandhändler Amazon untersagt, in einem Logistikzentrum in Winsen/Luhe mittels einer Software minutengenau und fortlaufend die Arbeitsschritte aufzuzeichnen, die Beschäftigte mit einem Handscanner durchführten. Zwecke dieser Datenerhebung waren in erster Linie die Steuerung der Logistikprozesse vor Ort, aber auch die die "Qualifizierung und Schaffung von Bewertungsgrundlagen für individuelles Feedback an die Beschäftigten und Personalentscheidungen". Amazon berief sich vor dem Verwaltungsgericht (VG) Hannover auf sein berechtigtes Interesse an der Datenverarbeitung und erreichte eine Aufhebung der Untersagungsverfügung.
Das Gericht hielt die Maßnahmen zur Leistungskontrolle – anders als die Datenschutzbehörde – für zulässig (Urt. v. 09.02.2023, Az. 10 A 6199/20). Für alle verfolgten Zwecke sei die Datenverarbeitung erforderlich. Die vorzunehmende Abwägung der Interessen Amazons mit dem Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiter gehe zugunsten des Unternehmens aus. Mit der Entscheidung tat sich das Gericht offenbar nicht leicht: Die Interessenabwägung sei "sehr schwierig" gewesen, so die Kammer, zumal die Mitarbeiter durchaus einem "Anpassungs- und Überwachungsdruck" ausgesetzt würden.
Nach Ansicht des VG sprach für ein Überwiegen der Unternehmensinteressen vor allem, dass die Datenerhebung nicht heimlich geschehe, sondern die Mitarbeiter vorab über die Zwecke informiert seien. Ferner finde zwar eine Leistungs-, aber keine Verhaltenskontrolle statt, denn die Kommunikation und physische Bewegungen der Mitarbeiter würden nicht erfasst. Hauptzweck sei die Steuerung der Logistikabläufe. Schließlich schätzten viele Beschäftigte die Möglichkeit objektiven Feedbacks und fairer Personalentscheidungen ihres Arbeitgebers als positive Wirkung der Überwachung – davon hatte sich die Kammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung in Amazons Logistikzentrum selbst ein Bild gemacht und mit Zeugen, unter anderem dem jetzigen und ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden, gesprochen.
Erhebliche praktische Rechtsunsicherheit
Tatsächlich stellt der Einsatz von Software, die eine permanente Überwachungsmöglichkeit schafft, Unternehmen vor eine schwierige Entscheidung – auch dann, wenn die Software vorrangig anderen Zwecken dient. Denn die Maßnahme ist nur zulässig, wenn die Unternehmensinteressen das Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiter überwiegen – dies ist regelmäßig ein Graubereich, in dem auch Juristen keine eindeutige Antwort finden und daher auf verbleibende Risiken hinweisen müssen. Mit Datenschutz- und Arbeitsrecht sind zudem verschiedene Rechtsbereiche mit unterschiedlichen Schutzrichtungen betroffen. Immerhin: Der Betriebsrat muss der Maßnahme zustimmen, was zumindest etwas mehr Klarheit schafft, da Betriebsvereinbarungen seit 2018 auch datenschutzrechtliche Rechtsgrundlagen darstellen.
Die bisherige Rechtsprechung ist wenig eindeutig: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) stuft Maßnahmen des Unternehmens, bei denen Mitarbeiter einem permanenten Überwachungsdruck ausgesetzt sind, grundsätzlich als rechtswidrig ein. In diesem Sinne erklärte es 2017 den Einsatz einer "Keylogger-Software", mit der der Arbeitgeber heimlich und dauerhaft die Tastaturbewegungen von Mitarbeitern aufzeichnete und auswertete, für unverhältnismäßig und damit unzulässig (Urt. v. 27.07.2017, Az. 2 AZR 681/16).
Im Bereich des Kameraeinsatzes in Unternehmen ist anerkannt, dass Büros oder andere Aufenthaltsräume für Mitarbeiter regelmäßig nicht permanent gefilmt werden dürfen. Soweit der Arbeitgeber jedoch öffentlich zugängliche Räume offen videoüberwacht, hielt das BAG in der Vergangenheit für zulässig, sofern daraus nicht ein einer verdeckten Überwachung vergleichbarer Anpassungs- und Leistungsdruck entsteht. Der europäische Gesetzgeber hat in der Datenschutz-Grundverordnung das "Profiling" als besonders sensibel gekennzeichnet. Und manche Kommentatoren halten bei fehlendem Verdacht auf Verstöße nur stichprobenartige Kontrollen des Arbeitgebers für zulässig, das Thema ist aber umstritten.
Stärkung der Unternehmensinteressen
Viele Unternehmen wollen gleichwohl die Möglichkeiten moderner Technologie nutzen und Tools einsetzen, um ihre Betriebsabläufe effizienter zu gestalten oder ihr Unternehmen zu schützen. Dabei kommen, je nach Beschaffenheit der Software, verschiedene Intensitätsgrade der Überwachung in Betracht:
Zum einen gibt es Software, die alle oder eine Vielzahl von Arbeitsschritten aufzeichnet, zumindest um Betriebsabläufe zu strukturieren oder Pausenzeiten zu begrenzen. Zum anderen kommt jedoch auch Software in Betracht, die im Hintergrund läuft und bei Verstößen der Mitarbeiter oder sonstigem ungewöhnlichem Verhalten Alarm schlägt. Dieser Einsatz ist weniger intensiv, auch wenn letztlich eine fortlaufende Überwachung stattfindet. Denn es werden damit nicht gleich Mitarbeiterprofile angelegt, sondern die Software weist nur auf Unregelmäßigkeiten hin und schützt damit das Eigentum und die Sicherheit des Arbeitgebers.
Die Entscheidung des VG schafft für Unternehmen die begrüßenswerte Klarheit, dass auch ein Einsatz einer dauerhaft eingesetzten Software datenschutzrechtlich vertretbar sein kann. Das gilt zumindest bei Unternehmen wie Amazon, bei denen es entscheidend auf Schnelligkeit und Effizienz der Arbeitsabläufe ankommt. Unternehmen können nun auch leichter argumentieren, dass der Einsatz der oben als zweites genannten Art von Software zur dauerhaften Überwachung auf Unregelmäßigkeiten zulässig ist.
In juristischer Hinsicht kritisch zu bewerten ist die – zumindest in Pressemitteilungen wiedergegebene – Aussage des Gerichts, wonach der vorrangige Zweck des Software-Einsatzes bei Amazon die Logistiksteuerung gewesen sei: Denn das Datenschutzrecht verlangt, dass die Datenverarbeitung hinsichtlich jedes Verarbeitungszwecks verhältnismäßig sein muss – ein vorrangiger Zweck rechtfertigt damit nicht nachrangige Zwecke. Möglicherweise wird hier aber der Volltext des Urteils weiteren Aufschluss geben. Die Berufung gegen das Urteil hat das VG zugelassen. Abzuwarten ist, ob sich die neugewonnene Klarheit bei dieser strittigen Materie durch den Instanzenzug wird halten können.
Unternehmen, die eine zur Mitarbeiterüberwachung fähige Software einführen, sollten in jedem Fall darauf achten, ihre Interessenabwägung genau zu prüfen und zu dokumentieren, nebst begleitender Sicherheitsmaßnahmen. Sinnvoll ist auch eine Datenschutz-Folgeabschätzung, selbst wenn keine "persönlichen Aspekte" der Mitarbeiter bewertet werden sollten. Ferner sollten Unternehmen ihren Datenschutzbeauftragten und – falls vorhanden – ihren Betriebsrat einbeziehen und die Überwachung in Datenschutzhinweisen ankündigen.