Das „Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof (BGH)“ (BGBl. 2024 I Nr. 328) ermöglicht es dem BGH, zentrale Rechtsfragen von entscheidender Bedeutung für eine Vielzahl gleichgelagerter Verfahren zu beantworten. Instanzgerichte sollen dadurch eine Richtschnur für die Entscheidungsfindung erhalten. Ziel des Gesetzes ist, die Effizienz der Justiz bei Masseverfahren zu steigern und Verfahrensdauern zu verkürzen. In verfahrensrechtlicher Sicht soll der Taktik, höchstrichterliche Entscheidungen durch frühzeitige Verfahrenserledigungen zu vermeiden, die Grundlage entzogen werden.
Auswahl aus anhängigen Revisionsverfahren
Das neue Gesetz sieht vor, dass der BGH künftig ein anhängiges Revisionsverfahren zu einem sog. „Leitentscheidungsverfahren“ bestimmen kann. Dabei soll nach Maßgabe des § 552b Satz 1 ZPO n.F. aus mehreren gleichgelagerten Revisionsverfahren dasjenige ausgewählt werden, das ein möglichst breites Spektrum an offenen Rechtsfragen bietet. Das Gesetz macht keine konkreten Vorgaben, wann die erforderliche „Vielzahl anderer Verfahren“ erreicht sein soll. Insofern kommt dem BGH offenbar freies Ermessen bei der Auswahl des Leitentscheidungsverfahrens zu.
Die Entscheidung, welches Revisionsverfahren bestimmt wird, kann allerdings frühestens nach Eingang der Revisionserwiderung oder nach Ablauf eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung erfolgen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Positionen beider Parteien berücksichtigt werden. Der Auswahlbeschluss enthält gemäß § 552b Satz 2 ZPO n.F. eine Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts sowie der klärungsbedürftigen Rechtsfragen und ist unverzüglich zu veröffentlichen, beispielsweise auf der BGH-Homepage oder per Pressemitteilung.
Wirkung des Leitentscheidungsverfahrens
Die Instanzgerichte können nach Veröffentlichung des Auswahlbeschlusses die anhängigen Parallelverfahren gemäß § 148 Abs. 4 ZPO n.F. für die Dauer von maximal einem Jahr aussetzen, bei Vorliegen gewichtiger Gründe auch länger. Die Aussetzung des Verfahrens setzt lediglich eine Anhörung der Parteien voraus, deren explizite Zustimmung ist nicht erforderlich. Eine Aussetzung hat allerdings zu unterbleiben, wenn eine der Parteien der Aussetzung unter Glaubhaftmachung gewichtiger Gründe, wie beispielsweise einer bevorstehenden Insolvenz, widerspricht. Der deutsche Gesetzgeber hat sich hier bewusst entschieden, die Herrschaft über die betroffenen Verfahren zu einem gewissen Teil von den Parteien auf die Instanzgerichte zu verlagern.
Die getroffene Leitentscheidung enthält, neben der Feststellung der Verfahrensbeendigung (Tenor), eine Begründung, die die Erwägungen zu den maßgeblichen Rechtsfragen erläutert, und ist unverzüglich zu veröffentlichen. Ist die Leitentscheidung veröffentlicht, setzen die Instanzgerichte die zuvor ausgesetzten Parallelverfahren unter Berücksichtigung der Leitentscheidung fort.
Für die Parteien des ausgewählten Revisionsverfahrens bringt das Leitentscheidungsverfahren ein Novum. Zwar bleibt es den Parteien unbenommen, sich auch nach dem Auswahlbeschluss zu vergleichen oder die Revision zurückzunehmen. Eine Leitentscheidung in Bezug auf das ausgewählte Verfahren wird durch eine Verfahrensbeendigung aber nicht verhindert.
Beschränkung der Parteiautonomie
Bisher konnten die Parteien eines Zivilprozesses uneingeschränkt bestimmen, ob und inwieweit ein Zivilgericht tätig wird und über den Umfang der gerichtlichen Prüfung sowie die Dauer des jeweiligen Verfahrens entscheiden. Nach der im Zivilverfahren geltenden „Dispositionsmaxime“, einem zentralen Grundsatz des deutschen Zivilprozessverfahrensrechts, war es insbesondere zulässig, mittels Prozessbeendigung durch Vergleich oder Rücknahme der Revision zu vermeiden, dass sich der BGH zu bestimmten Rechtsfragen äußert. Mit dem neuen Gesetz erhält der BGH gemäß § 565 ZPO n.F. nunmehr die Möglichkeit, über die im Auswahlbeschluss zum Leitentscheidungsverfahren dargelegten Fragen ohne mündliche Verhandlung selbst dann zu entscheiden, wenn das ausgewählte Verfahren zwischenzeitlich durch Vergleich der gerichtlichen Prüfung entzogen wurde.
Reichweite der Leitentscheidung
Die „Leitentscheidung“ entfaltet weder eine formale Bindungswirkung noch hat sie unmittelbare Auswirkungen auf das ausgewählte Revisionsverfahren. Sie soll den Instanzgerichten und der Öffentlichkeit als Richtschnur und Orientierung dienen, wie der BGH die relevanten Rechtsfragen beurteilt. Insofern handelt es sich eher um eine Art gutachterliche Äußerung des Revisionsgerichts. Weil sich der Leitentscheidungsbeschluss an die Öffentlichkeit wendet, ist dieser auch nicht mit einem „nachgelagerten Hinweis“ im Sinne von § 139 Abs. 2 S. 1 ZPO vergleichbar, da sich dieser explizit an die Parteien eines Prozesses richtet.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich das deutsche Leitentscheidungsverfahren von Common Low Jurisdiktionen, wo Instanzgerichte und Verfahrensbeteiligte nach dem Vorbild der „doctrine of precedent“ formell-rechtlich an den Inhalt der Leitentscheidung gebunden sein können.
Allerdings wird die Leitentscheidung faktische Bindungswirkung mit sich bringen, die einer formellen Verbindlichkeit nur geringfügig nachstehen dürfte. Da den Instanzgerichten grundsätzlich daran gelegen ist, „rechtsmittelfeste“ Entscheidungen zu treffen, werden sich diese in der Regel an die Leitentscheidung halten. Gerade diese Bedeutung höchstrichterlicher Rechtsprechung ist es, die der Gesetzgeber mit der Einführung des Leitentscheidungsverfahrens im Blick hatte.
Effizienterer Zivilprozess bei Massenverfahren
Ob die neuen Vorschriften die Effizienz in Massenverfahren tatsächlich verbessern, ist durchaus fraglich. Zum einen wird argumentiert, das Leitentscheidungsverfahren setze zu spät an, weil zunächst mehrere vergleichbare Verfahren in die Revisionsinstanz gelangen müssten. Dies allein kann unstreitig einige Jahre dauern. Bis zu diesem Zeitpunkt blieben die Instanzgerichte unverändert mit der jeweiligen Verfahrensflut belastet.
Zum anderen sei zu erwarten, dass die Verfahrensbeteiligten prozesstaktische Vorgehensweisen wie die „Flucht aus der Revision“ durch Rechtsmittelrücknahme einfach vorverlagern dürften: das Rechtsmittel der Revision wird gar nicht erst eingelegt oder ein verfahrensbeendender Vergleich wird in der Vorinstanz geschlossen. Damit würden die Chancen einer höchstrichterlichen Klärung bedeutsamer Rechtsfragen eher vermindert.
Weiter würde bereits die Möglichkeit eines Leitentscheidungsverfahrens gütliche Einigungen zwischen den Parteien verhindern. Denn sobald eine der Parteien an mehreren vergleichbaren Verfahren beteiligt ist, wie bei Massenverfahren oftmals der Fall, könnte für diese Partei ein gewichtiger Anreiz bestehen, das konkrete Revisionsverfahren weiter zu betreiben, damit ihr wenigstens die Möglichkeit zur Einflussnahme auf die gerichtliche Entscheidungsfindung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung verbliebe.
Schließlich kann man fragen, ob nicht schon die Möglichkeit eines Leitentscheidungsverfahrens die Instanzgerichte dazu bewegen dürfte, die bei ihnen anhängigen Verfahren in Erwartung einer Leitentscheidung „mit angezogener Handbremse“ zu betreiben. Den Prozessbeteiligten und der gewünschten Verfahrenseffizienz wäre hiermit sicherlich nicht gedient.
Fazit
Mit dem neuen Leitentscheidungsverfahren reagiert der Gesetzgeber nach Einführung der Musterfeststellungsklage und dem Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz erneut auf die Herausforderungen der Gerichte bei der Bewältigung von Massenverfahren. Nunmehr soll insbesondere prozesstaktischen Überlegungen begegnet werden, die auf die Vermeidung möglicher Präzedenzfälle zu Ungunsten von Unternehmen zielen, um dadurch gerichtliche Grundsatzentscheidungen für eine Vielzahl von Verfahren ermöglichen. Dass der BGH von dem neuen Instrumentarium Gebrauch machen wird, hat er bereits am Tag des Inkrafttretens in einer datenschutzrechtlichen Angelegenheit gezeigt (BAG, 31.10.2024 – VI ZR 10/24). Längerfristig wird sich weisen, ob prozessrechtliche Alternativen, wie etwa die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim BGH, nicht doch erfolgversprechender sind.