Mit der Umsetzung der EU-Verbandsklagerichtlinie wird die deutsche Prozesslandschaft erstmals um eine echte Sammelklage ergänzt. Mit Einführung der sog. „Abhilfeklage“ steigt für Unternehmen das Risiko, sich aufwendig gegen Forderungen von Verbraucherverbänden verteidigen zu müssen.
Das Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (Gesetz zur gebündelten Durchsetzung von Verbraucherrechten – VDuG) (BGBl I Nr. 272/2023) setzt die EU-Verbandsklagerichtlinie (EU-Richtlinie 2020/1828) in deutsches Recht um. Dazu wird eine neue „Abhilfeklage“ (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 VDuG) eingeführt, mit der Verbrauchern in Deutschland erstmals ein Sammelklageverfahren für im Wesentlichen gleichgelagerte Fälle zur Verfügung steht, das ohne zusätzliche gerichtliche Schritte zu einem vollstreckbaren Titel führt. Die Abhilfeklage kann entweder auf Leistung an die betroffenen Verbraucher oder auf Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrages gerichtet sein (§ 14 VDuG). Die schon bestehenden Regelungen zur Musterfeststellungsklage werden als weiteres Instrument kollektiver Prozessführung in das VDuG integriert (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 VDuG).
Anwendungsbereich
Zum Anwendungsbereich der Abhilfeklage zählen alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, die Ansprüche und Rechtsverhältnisse einer Vielzahl von Verbrauchern gegen ein Unternehmen betreffen (§ 1 Abs. 1 VDuG). Der gesetzliche Anwendungsbereich geht damit über die Richtlinie hinaus und umfasst nicht nur Verbraucherschutzvorschriften, sondern beispielsweise auch das allgemeine Deliktsrecht.
Unternehmen dürften so einem noch größeren Prozessrisiko ausgesetzt werden, denn insbesondere bei datenschutzrechtlichen Schadensersatzansprüchen, Produkthaftungsfällen, Kartellschadens-ersatzansprüchen, Kapitalanlagefällen und der Durchsetzung des Digital Markets Act könnte die Abhilfeklage zukünftig in Betracht kommen.
Klagebefugnis
Anders als bei der US-amerikanischen Class Action, wo auch einzelne Verbraucher derartige Verfahren anstrengen können, sind nur qualifizierte (inländische) Verbraucherverbände (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 VDuG) und qualifizierte Einrichtungen aus anderen EU-Mitgliedstaaten (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 VDuG) berechtigt, Klage zu erheben. Qualifizierte Verbraucherverbände dürfen sich zum einen zu maximal 5% aus Zuwendungen von Unternehmern finanzieren und müssen zum anderen in der Liste nach § 4 des Unterlassungsklagegesetzes eingetragen sein. Die klageberechtigten Stellen müssen ebenso wie das Klageregister öffentlich über die Abhilfeklagen berichten und Verbraucher darüber aufklären, wie sie teilnehmen können.
Für die Zulässigkeit einer Klage setzt das Gesetz ein Verbraucherquorum voraus. Dazu muss die klageberechtigte Stelle nachvollziehbar darlegen, dass mindestens 50 Verbraucher betroffen sein können (§ 4 Abs. 1 VDuG).
Der Streitwert wird ungeachtet der tatsächlichen wirtschaftlichen Bedeutung des Einzelfalles auf
€ 300.000 bei der Abhilfeklage bzw. € 250.000 bei der Musterfeststellungsklage begrenzt (§ 48a Abs. 1 S. 2 GKG-neu). Die Kostenrisiken für klagebefugte Verbände dürften daher überschaubar sein, was die Hemmschwelle einer Klageeinreichung herabsetzt.
Bündelung gleichartiger Ansprüche
Die betroffenen Ansprüche müssen im Wesentlichen gleichartig sein (§ 15 Abs. 1 Satz 1 VDuG). Durch diese weite Formulierung erhalten die Gerichte zwar mehr Flexibilität in der Handhabung von Abhilfeklagen. Die Frage der Gleichartigkeit der Ansprüche dürfte aber ein maßgeblicher Streitpunkt bleiben, insbesondere wenn Abhilfeklagen zugleich kleine Unternehmen und Verbraucher betreffen, die möglicherweise nicht gleichmäßig von einer Rechtsverletzung geschädigt werden.
Ist gegen einen Unternehmer aufgrund des betroffenen Sachverhalts bereits eine Abhilfe- oder Musterfeststellungsklage anhängig, entfaltet die erste bei Gericht anhängig werdende Verbandsklage Sperrwirkung gegenüber anderen gleichgelagerten Verbandsklagen (§ 8 VDuG).
Opt-in-Modell
Verbraucher, die sich der Verbandsklage anschließen möchten, müssen sich zur Eintragung in das beim Bundesamt für Justiz eingerichtete Klageregister anmelden (§ 46 VDuG). Als Verbraucher gelten in diesem Zusammenhang auch kleine Unternehmen mit weniger als 10 Beschäftigten und einem Jahresumsatz bzw. einer Jahresbilanz von weniger als 2 Millionen Euro. Die Anmeldung muss fristgerecht bis zum Ablauf von drei Wochen nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung und damit vor einem Urteil (§ 13 Abs. 4 VDuG) erfolgen.
Mit dieser Regelung ermöglicht der Gesetzgeber den Verbrauchern einen sehr späten Opt-in. Für Unternehmen wird dies sinnvolle Vergleichsverhandlungen vor einem Urteil häufig erschweren, weil erst spät feststeht, wieviele Personen sich der Klage angeschlossen haben.
Prozessfinanzierung
Eine Prozessfinanzierung durch Dritte ist unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich möglich
(§ 4 Abs. 2 VDuG). Der Prozessfinanzierer darf allerdings kein Wettbewerber des verklagten Unternehmens oder vom verklagten Unternehmen abhängig sein. Unzulässig ist es, dem Prozessfinanzierer einen wirtschaftlicher Anteil von mehr als 10 Prozent an der vom verklagten Unternehmen zu erbringenden Leistung zu versprechen. Der Kläger hat mit Einreichung der Klageschrift gegenüber dem Gericht die Herkunft der Gelder und gegebenenfalls die mit dem Prozessfinanzierer getroffenen Vereinbarungen offenzulegen (§ 4 Abs 3 VDuG). Bei einer Erfolgsbeteiligung soll nach der Gesetzesbegründung die Leistung stets an den Verbraucher zu erbringen sein, der dann seinerseits an den Prozessfinanzierer zahlt.
Im Falle von prozessfinanzierten Gewinnabschöpfungsklagen nach § 10 UWG besteht keine Obergrenze für die Höhe der Erfolgsbeteiligung. Allerdings ist vor Einleitung des gerichtlichen Verfahrens erforderlich, dass die Finanzierungsbedingungen vom Bundesamt für Justiz bewilligt werden (§ 10 Abs. 6 UWG). Zukünftig wird für eine Gewinnabschöpfung nicht mehr vorsätzliches Fehlverhalten vorausgesetzt, so dass bereits grob fahrlässige UWG-Verstöße genügen. Weil der Streitwert bei € 410.000 gedeckelt ist (§ 51 Abs. 2 GKG-neu). dürfte die Gewinnabschöpfungsklage für das Geschäftsmodell von Prozessfinanzierern attraktiv werden.
Verfahrensablauf
Das gerichtliche Abhilfeverfahren gliedert sich in drei Phasen. Zuerst prüft das zuständige Oberlandesgericht die Zulässigkeit der Klage und die Begründetheit des Anspruchs. Daraufhin kann das Gericht ein Abhilfegrundurteil erlassen, das die konkreten Kriterien und Nachweise für die Anspruchsberechtigung der Verbraucher festlegt. Die Möglichkeit einer Revision zum Bundesgerichtshof ist möglich.
In einer Vergleichsphase sollen die Parteien auf Basis des Abhilfegrundurteils eine gütliche Einigung über die Abwicklung des Rechtsstreits verhandeln (§ 17 VDuG). Einigen sich die klageberechtigte Stelle und das Unternehmen auf einen Vergleich, so bedarf dieser zur Wirksamkeit der Genehmigung des Gerichts, sofern dieser unter Berücksichtigung der Umstände und Verbraucherinteressen als angemessen erachtet wird (§ 9 VDuG).
Wird keine Einigung erzielt, erlässt das Gericht in einer dritten Phase ein Abhilfeendurteil und bestimmt den „kollektiven Gesamtbetrag“ (§ 19 VDuG), den das Unternehmen an die betroffenen Verbraucher zahlen muss. Dieser Betrag wird in einen Abhilfefonds („Umsetzungsfonds“, § 26 VDuG) eingezahlt und kann später erhöht werden, sofern der Betrag zur Entschädigung der Verbraucher nicht ausreicht (§ 21 VDuG). Unternehmen unterliegen aufgrund dieser unbegrenzten Nachzahlungspflicht einem besonderen finanziellen Risiko, auch wenn im günstigen Fall überschüssige Gelder später an das Unternehmen zurückgezahlt werden müssen, da dem Unternehmen kein Strafschadensersatz auferlegt werden soll.
Verteilung durch gerichtlich bestimmten Sachwalter
Für das anschließende Umsetzungsverfahren (§§ 22 ff. VDuG) bestellt das Gericht einen geeigneten und von den Parteien unabhängigen Sachwalter, der den Gesamtbetrag nach einem Verteilungsplan an die einzelnen Verbraucher auszahlt. Die Verbraucher müssen ihre Ansprüche innerhalb einer Frist beim Sachwalter anmelden, der die Anspruchsberechtigung der am Umsetzungsverfahren teilnehmenden Verbraucher prüft und einen Verteilungsplan erstellt (§ 27 VDuG). Dem Verteilungsplan kann von dem betroffenen Unternehmen oder den betroffenen Verbrauchern binnen vier Wochen widersprochen werden. Der Widerspruch ist in Textform an den Sachwalter zu richten und zu begründen (§ 28 Abs. 2 VDuG). Eine gerichtliche Überprüfung der Widerspruchsentscheidung des Sachwalters ist in engen Grenzen möglich und muss binnen zwei Wochen nach Zugang beantragt werden (§ 28 Abs. 4 VDuG). Dadurch könnte das Verfahren länger und teurer werden.
Die Kosten des Umsetzungsverfahrens werden allein vom verurteilten Unternehmen getragen
(§ 20 VDuG) und setzen sich aus den Auslagen des Sachwalters und dessen Vergütung zusammen. Insbesondere zählen hierzu Verbindlichkeiten, die der Sachwalter im Rahmen seiner Befugnisse eingeht, wie beispielsweise die Einrichtung und das Betreiben eines Online-Portals oder das Heranziehen von Dritten zur Aufgabenerfüllung, bspw. um eine zügige Abwicklung zu gewährleisten.
Fazit
Mit der Einführung der Abhilfeklage steigt grundsätzlich das Risiko, dass Unternehmen sich aufwendig, gegebenenfalls auch gegen unberechtigte Ansprüche sowie Klagen aus anderen EU-Mitgliedsstaaten, verteidigen müssen, wobei die Verbandsklage nur eine Option aus mehreren Alternativinstrumenten des kollektiven Rechtsschutzes ist. Daneben können Verbraucher, die sich einer Abhilfeklage nicht anschließen, weiterhin Individualklagen anstrengen. Auch werden die Geschäftsmodelle kommerzieller Dienstleister weiterbestehen, die eine Vielzahl an Verbraucheransprüchen sammeln und aus abgetretenem Recht in einem einheitlichen Verfahren durchzusetzen versuchen.