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Deutschland | Publikation | Juli 2021
Ab dem 16. Juli 2021 gilt die VO (EU) 2019/1020 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten (EU-Marktüberwachungsverordnung). Diese wird zukünftig den Kern des europäischen Marktüberwachungsrechts bilden und soll einer einheitlichen und effizienten Umsetzung produktrechtlicher Vorgaben dienen. Den Marktüberwachungsbehörden werden dabei umfassende und teils neue Befugnisse eingeräumt und der internationale behördliche Informationsaustausch gefördert. Hierdurch steigt das mit Lücken in der Produkt-Compliance verbundene Risiko faktisch erheblich. Hinzu kommen gesteigerte produktregulatorische Pflichten sowie die Aufnahme „neuer“ Wirtschaftsakteure in den Kreis der Verpflichteten; dieser kann nun insbesondere auch sogenannten „Fulfillment-Dienstleister“ umfassen. Auch der Onlinehandel wird schärferen Regeln unterworfen.
Im Zuge ihrer Binnenmarktstrategie verfolgt die Europäische Kommission unter anderem das Ziel den Binnenmarkt für Waren auszubauen, indem die Bemühungen zum Fernhalten nicht konformer Produkte vom Unionsmarkt verstärkt wird. In ihrer Mitteilung vom 28. Oktober 2015 kündigte die Kommission in diesem Zusammenhang an, sich „mit einem umfassenden Maßnahmenpaket besonders dafür einzusetzen, dass nicht konforme Produkte dank einer strengeren Marktüberwachung (…) in der EU nicht auf den Markt gelangen“ (Seite 23 der Mitteilung). Nach umfassenden Beratungen wurde im Ergebnis am 25. Juni 2019 die EU-Marktüberwachungsverordnung beschlossen (Amtsblatt der EU vom 25.06.2019, L 169/1). Diese zielt auf eine konsequente Durchsetzung produktrechtlicher Anforderungen zur Gewährleistung eines hohen Niveaus in Bezug auf Sicherheit, Gesundheit sowie Verbraucher- und Umweltschutz. Erreicht werden soll dies im Wesentlichen durch eine Stärkung der Marktüberwachung, eine verstärkte Kontrolle von in den EU-Binnenmarkt eingeführter Waren sowie ergänzende Anforderungen an Wirtschaftsakteure. Dabei rückt der Verordnungsgeber den Onlinehandel in den Fokus. Dies ist konsequent, da insbesondere der Onlinevertrieb nichtkonformer (z.B. unsicherer oder nicht korrekt gekennzeichneter) Produkte, für welche ein Verantwortlicher de facto oftmals nicht greifbar ist, als ein wesentlicher Quell von ungewollten Wettbewerbsverzerrungen und von Sicherheitsbedenken gesehen wird. Auf nationaler Ebene tritt ebenfalls am 16. Juli 2021 das deutsche Marktüberwachungsgesetzes (MÜG) in Kraft, welches die maßgeblichen Bestimmungen aus der EU-Marktüberwachungsverordnung für den nicht harmonisierten Non-Food-Bereich ins deutsche Recht überträgt (§ 1 Abs. 2 MÜG).
Die EU-Marktüberwachungsverordnung folgt sachlich einem branchenneutralen und sektorenübergreifenden Ansatz und betrifft eine Vielzahl an Produkten, Produktkategorien und Produktgruppen. Konkret sind sämtliche Produkte, welche einer der in Anhang I festgelegten produktrechtlichen Harmonisierungsrechtsvorschriften unterliegen (Art. 2 Abs. 2 VO (EU) 2019/1020), umfasst. Der Vorschriftenkatalog ist lang, sodass die Verordnung ein breites Spektrum an Produkten und Produktgruppen abdeckt. Die Harmonisierungsvorschriften umfassen beispielsweise Spielzeug, Batterien, kosmetische Mittel, Textilprodukte, persönliche Schutzausrüstung oder Medizinprodukte. Weiterhin enthält der Katalog exemplarisch eine große Palette an verpackungs- und chemikalienrechtlichen Regelungen sowie dem Typengenehmigungs- und Straßenverkehrszulassungsrecht zugeordnete Regelungen. Dem lex-specialis-Grundsatz folgend bleiben konkretere Vorgaben der referenzierten Harmonisierungsrechtsvorschriften jedoch stets vorrangig anwendbar. Auch entfaltet die EU-Marktüberwachungsverordnung ausdrücklich keine Sperrwirkung gegenüber spezielleren Maßnahmen der Marktüberwachungsbehörden unter der Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG (Art. 2 Abs. 3 VO (EU) 2019/1020).
Die EU-Marktüberwachungsverordnung ist bereits am 15. Juli 2019 in Kraft getreten. Der Geltungsbeginn der Verordnung ist jedoch hiervon abweichend geregelt: So sieht Art. 44 VO (EU) 2019/1020 die Geltung einiger sich an staatliche Akteure gerichteten Regelungen bereits ab dem 1. Januar 2021 vor. Formulierte Pflichten für Wirtschaftsakteure gelten demgegenüber erst ab dem 16. Juli 2021 (Art. 44 VO (EU) 2019/1020). Betroffen sind daher Produkte, welche ab diesem Tag in der Europäischen Union in den Verkehr gebracht – also erstmalig entgeltlich oder unentgeltlich zum Vertrieb, Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Unionsmarkt im Rahmen einer Geschäftstätigkeit abgegeben (Art. 3 Nr. 2, 1 VO (EU) 2019/1020) – werden.
Die EU-Marktüberwachungsverordnung nimmt also „Wirtschaftsakteure“ in die Pflicht. Diese haben allgemein bei Risikovermeidungsmaßnahmen mit den Marktüberwachungsbehörden zu kooperieren (Art. 7 Abs. 1 VO (EU) 2019/1020) und können Adressaten umfassender behördlicher Maßnahmen sein (dazu unten). Der Kreis der Wirtschaftsakteure ist nach der gesetzlichen Konzeption dabei denkbar weit: Umfasst sind Hersteller, Bevollmächtigte, Einführer, Händler, Fulfillment-Dienstleister oder jede andere natürliche oder juristische Person, die Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Herstellung von Produkten, deren Bereitstellung auf dem Markt oder deren Inbetriebnahme gemäß den einschlägigen Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union unterliegt (Art. 3 Nr. 13 VO (EU) 2019/1020). Die explizite Aufnahme von Fulfillment-Dienstleistern – also natürliche oder juristische Personen, welche im Rahmen ihrer geschäftlichen Tätigkeit mindestens zwei der folgenden Dienstleistungen anbietet: Lagerhaltung, Verpackung, Adressierung und Versand von Produkten, an denen sie kein Eigentumsrecht hat (wobei Post-, Paketzustell- und sonstige Frachtverkehrsdienstleistungen ausgenommen sind, Art. 3 Nr. 11 VO (EU) 2019/1020) – schließt dabei Lücken in der Lieferkette.
Ungeachtet etwaiger sich auch den Harmonisierungsrechtsakten ergebenden Pflichten, dürfen bestimmte Produkte, welche unter eine von 18 genannten europäischen Verordnungen und Richtlinien fallen – beispielsweise Spielzeug, Bauprodukte oder persönliche Schutzausrüstung – nur dann in den Verkehr gebracht werden, wenn ein in der Europäischen Union niedergelassener Wirtschaftsakteur für die Einhaltung produktregulatorischer Pflichten verantwortlich ist (Art. 4 Abs. 1 VO (EU) 2019/1020). Dies kann – je nach Produkt – die Pflicht zur Überprüfung und Bereithaltung von EU-Konformitätserklärungen und technischer Dokumente umfassen; ebenso zur Übermittlung etwaiger zum Nachweis der Konformität erforderlicher Unterlagen, zur Unterrichtung von Marktüberwachungsbehörden bei festgestellten Produktrisiken und/oder die Gewährleistung erforderlicher Korrekturaktivitäten im Falle der Nichtkonformität. Im Hinblick auf diese bestimmten Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union unterfallenden Produkten, führt die EU-Marktüberwachungsverordnung auch eine neue Kennzeichnungspflicht ein. Nach Art. 4 Abs. 4 VO (EU) 2019/1020 sind nämlich der verantwortliche Wirtschaftsakteur samt Kontaktdaten auf dem Produkt oder seiner Verpackung, dem Paket oder in einem Begleitdokument anzugeben. Sehr weit ist auch das Verständnis des Inverkehrbringens eines Produktes: Die Verordnung versteht hierunter die erstmalige Bereitstellung (…) auf dem Unionsmarkt (Art. 3 Nr. 1 VO (EU) 2019/1020), wobei eine Bereitstellung auf dem Markt wiederum die entgeltliche oder unentgeltliche Abgabe eines Produkts zum Vertrieb, Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Unionsmarkt im Rahmen einer Geschäftstätigkeit meint (Art. 3 Nr. 1 VO (EU) 2019/1020). Beim Onlinewarenhandel gilt ein zum Verkauf angebotenes Produkt bereits dann als auf dem Markt bereitgestellt, wenn sich das Angebot an Endnutzer in der Union richtet, was immer dann der Fall sein soll, wenn der betreffende Wirtschaftsakteur seine Tätigkeiten in irgendeiner Weise auf einen Mitgliedstaat ausrichtet (Art. 6 VO (EU) 2019/1020).
Zur Einhaltung und Durchsetzung der harmonisierten Unionsrechtsakte sowie der Verordnung selbst haben die Behörden eine effektive Marktüberwachung zu gewährleisten, Überprüfungen vorzunehmen und Maßnahmen zur Einhaltung der Verordnung sicherzustellen (Art. 11 VO (EU) 2019/1020). Zu diesem Zweck werden ihnen weitreichende Befugnisse gegeben. Dies reicht beispielsweise von der Anordnung von Produktrückrufen (Art. 19 VO (EU) 2019/1020) über Anordnungsbefugnisse im Zusammenhang mit Korrektur- und Risikominimierungsmaßnahmen (Art. 16 Abs. 3 VO (EU) 2019/1020) zu umfassenden Auskunfts- und Offenlegungsansprüchen gegenüber Wirtschaftsakteuren. Weiterhin finden sich in der Verordnung auch eher „exotische“ Befugnisse, beispielsweise die Befugnis zur Durchführung verdeckter Testkäufe oder zu reverse-engineering Tätigkeiten, d.h. Produktproben im Wege der Nachkonstruktion zu analysieren (Art. 14 VO (EU) 2019/1020). Im Bereich des Onlinehandels kann zudem von sog. „Online-Schnittstellen“ (gemeint sind im Wesentlichen Verkaufsplattformen) die Anzeige verpflichtender Warnhinweise oder die Entfernung bestimmter Inhalte verlangt werden (Art. 14 Abs. 4 lit. k VO (EU) 2019/1020). Neben dem Verordnungstext belegen dabei auch die Erwägungsgründe (vgl. Erwägungsgrund Nr. 41 VO (EU) 2019/1020), dass es sich hierbei jedoch eher um eine Ultima Ratio handelt.
Das deutsche Gesetz zur Marktüberwachung (MÜG) führt zur nationalen Umsetzung der im üblichem EU-Jargon geforderten „wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden“ Sanktionen (vgl. Art. 41 VO (EU) 2019/1020) sodann neue Ordnungswidrigkeiten- (§ 21 MÜG) und Straftatbestände (§ 22 MÜG) auf nationaler Ebene ein.
Im Übrigen sieht die EU-Marktüberwachungsverordnung umfassende Regelungen zum Informationsaustausch zwischen Behörden, zur internationalen Zusammenarbeit (Art. 22 ff. VO (EU) 2019/1020) sowie zur Einfuhrkontrolle (Art. 25 ff. VO (EU) 2019/1020) vor.
Wenngleich die EU-Marktüberwachungsverordnung selbst keine technischen Vorgaben an Produkte stellt, werden sich Hersteller (beziehungsweise deren Bevollmächtigte), Importeure und Händler sowie die sogenannten Fulfillment-Dienstleister in der Praxis mit einer deutlich intensivierten Marktüberwachung und etwaigen Maßnahmen der zuständigen Behörden konfrontiert sehen. Demgegenüber ist davon auszugehen, dass sich ordnungsgemäß verhaltende Wirtschaftsakteure unmittelbar von der Verordnung profitieren werden, da der (Online-)Vertrieb rechtlich nicht marktfähiger Konkurrenzprodukte aus Drittländern effektiver eingeschränkt werden kann. Im Übrigen werden sich insbesondere die Betreiber von Geschäftsmodellen, wie dem sogenannten „Dropshipping“, beziehungsweise von Streckengeschäften unter Einbindung von Fulfillment-Dienstleistern, sowie Anbieter aus Drittländern, welche ihre Produkte online im Direktvertrieb in die Europäische Union verkaufen, mit den Vorgaben der EU-Marktüberwachungsverordnung zwingend auseinandersetzen müssen.
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Ein Auslandsbezug im Sinne der EuGVVO liegt vor, wenn sich zwei in demselben EuGVVO-Mitgliedstaat wohnhafte Parteien im Rahmen einer Gerichtsstandsvereinbarung auf die internationale Zuständigkeit der Gerichte eines anderen EuGVVO-Mitgliedstaats verständigt haben.
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Künstliche Intelligenz (KI) wirft zahlreiche Rechtsfragen des geistigen Eigentums (IP) auf, insbesondere bei generativen KI-Systemen (GenAI), die Algorithmen zur Erzeugung neuer Inhalte verwenden. Dieser Artikel untersucht die wichtigsten IP-Probleme im Zusammenhang mit GenAI-Systemen aus der Perspektive der Streitbeilegung und der Prozessführung in Deutschland.
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