Die digitale Transformation ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg des Wirtschaftsstandorts Deutschland, eine der größten Volkswirtschaften Europas. Der deutsche Gesetzgeber treibt die Modernisierung voran, gleichzeitig bleibt noch genug Spielraum für digitale Innovationen, die auch die Prozessführung in wirtschaftlichen Angelegenheiten für die Verfahrensbeteiligten vereinfachen und effizienter gestalten könnten.
Problemaufriss
Die Praxis bei Rechtsdienstleistungen im privaten Sektor und der öffentlichen Streitbeilegung durch Gerichte ist sehr unterschiedlich. Während die Digitalisierung in der Wirtschaft, etwa durch die Nutzung von Videokonferenzen und Sofortnachrichten, seit Langem angekommen ist, sind in der deutschen Justiz der Austausch gedruckter Dokumente und die Erforderlichkeit persönlicher Anwesenheit bei Gerichtsprozessen weiterhin üblich. Allerdings stehen die lange Dauer von Verfahren, die Intransparenz des Verfahrensstands, die aufwändige Kommunikation zwischen Gericht und Prozessbeteiligten sowie die geringe Vorhersehbarkeit von Kosten und Ergebnissen von Gerichtsverfahren in der Kritik. Dies führt unter anderem dazu, dass sowohl im B2C- als auch im B2B-Bereich auf die Wahrnehmung von Rechten verzichtet wird. Um als Justizstandort wettbewerbsfähig zu bleiben, sind weitere Anpassungen von Verfahrensrecht und Gerichtsorganisation mit Blick auf eine umfassende Digitalisierung des Zivilverfahrens nötig. Insbesondere bedarf es effizienter Lösungen in Bezug auf Cybersecurity, Beweiserhebung und die Möglichkeiten asynchroner (Tele-) Kommunikation, um den Erwartungen von Prozessparteien, Richtern und weiteren Stakeholdern gerecht werden.
Digitalisierung der Justiz
Pflicht zur elektronischen Aktenführung
Seit dem 01.01.2022 sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt, durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts eingereicht werden, nach § 130d ZPO als elektronisches Dokument zu übermitteln. Die gesamte Verfahrensakte ist allerdings erst ab dem 01.01.2026 ausschließlich elektronisch zu führen, wobei einige Gerichte bereits heute umgestellt haben. Bei elektronischen Prozessakten können nach § 298a ZPO in Papierform vorliegende Schriftstücke und sonstigen Unterlagen sechs Monate nach der Übertragung in die elektronische Form vernichtet werden, sofern sie nicht rückgabepflichtig sind. Gerichtsverfahren könnten dadurch insbesondere bei komplexen Sachverhalten künftig informeller, transparenter und konzentrierter durchgeführt werden.
Kollaboratives „Basisdokument“ als Tatbestand des Urteils
Anstelle des bisherigen kontradiktorischen Verfahrens wird erwogen, ein sog. „Basisdokument“ einzuführen, das das vollständige Parteivorbringen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einschließlich der Sachanträge umfasst. Dabei würde das Kläger- und das Beklagtenvorbringen im Sinne einer Relationstabelle nebeneinander dargestellt. Aufgabe des Gerichts wäre es, die Erstellung des Basisdokuments zu überwachen und rechtzeitig Hinweise zur Strukturierung des Vortrags zu geben. Am Ende soll der im Basisdokument enthaltene Sachvortrag die Entscheidungsgrundlage für das Gericht bilden und somit die Funktion des Tatbestands nach § 313 ZPO im Urteil übernehmen. Dies hätte den Vorteil, dass mehrere Beteiligte an einem einheitlichen Text arbeiten können und damit Gemeinsamkeiten eher erkannt werden als bei einem kontradiktorischen Vortrag. Für Sachverständige, sei es als Gerichts- oder als Schiedsgutachter, würde dies eine erhebliche Arbeitserleichterung bedeuten, weil ohne aufwändiges Aktenstudium erkennbar wäre, worüber die Parteien streiten und wofür das Gericht ihre Sachkunde benötigt.
Effizienz durch Videoverhandlung
Bereits seit 2002 ist es nach § 128a ZPO zulässig, die mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme per Videokonferenz durchzuführen. Von dieser während der COVID19-Pandemie nunmehr öfter genutzten Möglichkeit soll verstärkt Gebrauch gemacht werden. Bislang musste sich das Gericht bei einer Videoverhandlung in einem extra dafür vorgesehenen Sitzungssaal aufhalten, der über die entsprechende Infrastruktur verfügt. Zukünftig soll nach dem Vorschlag einer der zahlreichen Justiz Arbeitsgruppen dem Gericht auch ermöglicht werden, sich außerhalb des Sitzungssaales aufzuhalten. Ebenso soll die Verhandlung für die Öffentlichkeit in einen bestimmten Raum bei Gericht in Ton und Bild übertragen werden. Videoverhandlungen sollen nicht nur auf nationaler, sondern vielmehr auf europäischer Ebene (unabhängig vom Streitwert) durchgeführt werden können. Dazu hat die EU-Kommission einen Verordnungsentwurf vorgelegt (COM(2021) 759 final), der die Zulässigkeit grenzüberschreitender Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragungen klarstellen und außerdem in vielen Fällen ein Recht auf Videoteilnahme schaffen würde. Überdies soll die Videoaufzeichnung einer Zeugenaussage die schriftliche Zeugenvernehmung ergänzen können. Der Sitzungsbetrieb würde dadurch effizienter werden, Sitzungstermine zügiger anberaumt werden können, Reise- und Wartezeiten reduziert, das Risiko von Terminsverlegungen reduziert werden mit der Folge, dass der Sachverhalt zeitnäher aufgeklärt und der Rechtsstreit im Interesse der Parteien schneller entschieden werden kann.
Online-Verfahren
Darüber hinaus soll ein sicheres und bundesweit einheitliches Justizportal geschaffen werden, womit Online-Mahnverfahren sowie ein neu einzuführendes „Beschleunigtes Online-Verfahren“ für Streitwerte bis €5.000 geführt werden können. Diese sollen mittels intelligenter Eingabe- und Abfragesystemen für jede Bürgerin und jeden Bürger anwendbar sein. Konkrete Pilotversionen eines deutschen Prozessportals sind seit 2021 im Test (vgl. Tech4Germany Fellowship 2021/BMJV). Bisher stellt der elektronische Zugang zu den staatlichen Gerichten mittels qualifizierter elektronischer Signatur oder über den sicheren Übermittlungsweg eine veritable Hürde dar.
Einsatz von Legal Tech
Die Anwendung von Legal Tech und Künstlicher Intelligenz wird in der EU bisher mit Ausnahme sog. „Regulatory Sandboxes“ nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, weder im anwaltlichen Berufsrecht noch im Rechtsdienstleistungsrecht. Automatisierte richterliche Entscheidungen in Form von Urteilen und/oder Beschlüssen sind unzulässig, denn gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Das Grundgesetz geht wie selbstverständlich davon aus, dass nur eine natürliche Person ein Richter sein kann. Der Einsatz künstlicher Intelligenz als Substitut für Richter ist folglich evident verfassungsrechtlich unzulässig.
Gleichwohl vermag der Einsatz künstlicher Intelligenz den Zivilprozess insbesondere bei Massenverfahren maßgeblich effizienter zu gestalten und eine Überlastung der Gerichte zu vermeiden. Denn das Gericht soll in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits oder einzelner Streitpunkte bedacht sein (§ 278 Abs. 1 ZPO). Dazu kann es den Parteien auch konkrete Vergleichsvorschläge unterbreiten (§ 278 Abs. 6 ZPO). In diesem Zusammenhang steht ein Pilotprojekt am Amtsgericht Frankfurt („Frauke“ - Frankfurter Urteils-Konfigurator Elektronisch), bei dem anhand von Fluggastrechten untersucht werden soll, inwiefern aus zur Verfügung stehenden Daten aus Bordkarten, Flugzeiten, Wetterdaten und vorangegangenen Entscheidungen des Amtsgerichts aus vergleichbaren Fällen, sinnvolle Urteilsvorschläge erstellt werden können. KI könnte damit eine zusätzliche Entscheidungshilfe für gleichförmige rechtliche Sachverhalte sein. Das Gericht trifft dabei weder eine eigene Sachentscheidung, noch bereitet es eine solche vor. Der Vergleichsvorschlag dient vielmehr der Wahrung des Rechtsfriedens, ohne dass ein Richter strikt auf die Entscheidung nach Recht und Gesetz bedacht sein soll. Da ein Vorschlag zur gütlichen Streitbeilegung – im Gegensatz zu richterlichen Entscheidungen – gerade keine Verhaltenspflichten der Parteien begründet, kann das Unterbreiten von Vergleichsvorschlagen auch durch eine Software bzw. künstliche Intelligenz erfolgen. Verfassungsrechtliche Zulässigkeitsbedenken bestehen also nicht.
Vorteil Schiedsgerichtsbarkeit?
Insbesondere gewinnen Rechtsdienstleistungsplattformen, Schlichtungsstellen und Schiedsgerichte aufgrund ihrer simplen elektronischen Zugangsmöglichkeiten, beispielsweise per E-Mail oder über ein auf der Website zur Verfügung gestelltes Formular, zunehmend an Attraktivität. Im Hinblick auf seit langem etablierte Standards der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, ist die volldigitale Abwicklung (elektronische Einreichung von Schriftsätzen, Nutzung spezieller Verfahrensmanagementplattformen, Nutzung interaktiver digitaler Dokumente) selbstverständlich. Mit Ausnahme von Videoverhandlungen und elektronischen Akten sind nach derzeit gültigem ZPO-Recht keine weitergehenden digitalen Anwendungen zugelassen.
Fazit
Die digitale Transformation der deutschen Justiz erfordert ein entschlossenes und rasches Handeln, um das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der staatlichen Gerichte zu gewährleisten. Denn staatliche Gerichte sind nicht mehr die einzige Anlaufstelle, um Rechtsstreitigkeiten zu lösen. Insbesondere gewinnen Rechtsdienstleistungsplattformen, Schlichtungsstellen und Schiedsgerichte zunehmend an Attraktivität. Es bleibt abzuwarten, inwiefern der deutsche Gesetzgeber die disruptive Kraft des technologischen Fortschreitens für die gerichtliche Praxis nutzt, um effizientere Verfahren, sachgerechtere Entscheidungen und eine schnellere Streitbeilegung zu gewährleisten, damit Deutschland als attraktives Forum für internationale Wirtschaftsstreitigkeiten wahrgenommen wird.